Steuernachforderungen und Steuererstattungen werden derzeit noch mit 0,5 Prozent pro Monat, also mit 6 Prozent pro Jahr verzinst, wenn der Steuerbescheid später als 15 Monate nach dem jeweiligen Steuerjahr ergeht. Da die Marktzinsen schon viele Jahre nahe Null und sogar im Negativbereich liegen, ist ein solcher Zinssatz heute nicht mehr zu rechtfertigen. So sieht es nun auch das Bundesverfassungsgericht: Ein Zinssatz von 6 Prozent ist verfassungswidrig, soweit er der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 zugrunde gelegt wird. Allerdings muss der Zinssatz durch den Gesetzgeber erst ab dem 1. Januar 2019 korrigiert werden. Das heißt, das bisherige Recht ist für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar (BVerfG-Beschluss vom 8.7.2021, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17).
Die Verfassungshüter begründen ihre Entscheidung wie folgt: Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen ist. Dies zeigt sich zunächst in der Entwicklung des Basiszinssatzes. Während er im Jahr 2008 noch bei über 3 Prozent lag, sank er im Laufe des Jahres 2009 rapide auf 0,12 Prozent. Seit Januar 2013 liegt er im negativen Bereich. Spätestens seit dem Jahr 2014 ist das Niedrigzinsniveau struktureller und nachhaltiger Natur, so dass ein Zinssatz von 6 Prozent für Steuerzinsen nicht mehr zu vertreten ist.
Für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume ist eine Verzinsung von 6 Prozent p.a. jedoch nicht unverhältnismäßig – ein verfassungsrechtlich auffälliges Missverhältnis besteht insoweit noch nicht. Das Niedrigzinsniveau hatte sich bis 2013 noch nicht derart verfestigt, dass der gesetzlich bestimmte Zinssatz als im Regelfall evident realitätsfern erscheint. Im Ergebnis wird die maßgebende Regelung der Abgabenordnung, § 233a AO i.V.m. 238 Abs. 1 Satz 1 AO, für alle Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 für verfassungswidrig erklärt. Die Unvereinbarkeit der Verzinsung betrifft nicht nur die Nachzahlungszinsen zulasten der Steuerpflichtigen, sondern umfasst ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.
Für Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 gilt die Vorschrift jedoch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Für Verzinsungszeiträume ab 2019 bleibt es hingegen bei der Unanwendbarkeit der Vorschrift. Insoweit ist der Gesetzgeber verpflichtet, eine Neuregelung bis zum 31. Juli 2022 zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst.
Praxistipp:
Das Bundesverfassungsgericht äußert sich nicht zur Frage des angemessenen Zinssatzes. Diesen muss nun der Gesetzgeber festlegen. Es gibt bereits Vorschläge, zum Beispiel eine Abhängigkeit zum Basiszinssatz nach § 247 BGB, doch es bleibt abzuwarten, wie der Gesetzgeber tatsächlich reagieren wird. Dabei wird auch von Interesse sein, ob der Gesetzgeber bereits ausgezahlte Erstattungszinsen zurückfordert oder ob er insoweit einen Vertrauensschutz für die Steuerzahler gewährt. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es derzeit coronabedingte Besonderheiten beim Verzinsungszeitraum gibt: Aufgrund der erheblichen Belastungen durch die Corona-Pandemie wurden die Fristen zur Abgabe der Einkommen-, Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuererklärungen 2019 und 2020 verlängert. Gleichzeitig wurde für die Berechnung von Steuerzinsen die – regulär fünfzehnmonatige – zinsfreie Karenzzeit des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO für den Besteuerungszeitraum 2019 um sechs Monate und für den Besteuerungszeitraum 2020 um drei Monate verlängert.